Kennst du diese Asterix-Folge? "Das Haus, das Verrückte macht"? Wo die Römer ein perfektes bürokratisches System erfinden, um die Gallier zu zermürben? Asterix und Obelix sollen den Passierschein A38 besorgen und werden dabei systematisch von Pontius zu Pilatus geschickt, bis alle Beteiligten komplett durchdrehen.
Falls du diese Folge nicht kennst: Stell dir vor, du brauchst ein Dokument. Ein simples Dokument. Aber um das zu bekommen, musst du zu Schalter A. Dort sagt man dir, du brauchst erst Formular B von Schalter C. Bei Schalter C erfährst du, dass Formular B nur mit Stempel D gültig ist, den es bei Schalter E gibt. Schalter E ist aber nur dienstags geöffnet, und nur mit Voranmeldung von Schalter F...
Du verstehst das Prinzip.
Jetzt stell dir vor, dieses System wäre real. Und du wärst mittendrin. Nicht mit einem gallischen Zaubertrank, sondern nur mit einem Telefon, einem Notizblock und dem festen Willen, einen simplen Präsentationstermin zu vereinbaren.
Was du gleich liest, ist keine Fiktion. Es ist die originalgetreue Rekonstruktion eines ganz normalen Dienstags in meinem Leben als Vertriebshelferin vor fast zehn Jahren. Es ging um... ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr genau, was es war. Ich denke, es waren modulare textile Bodenbeläge mit Geräuschdämmung und individueller Bedruckung. Oder waren es innovative Türbeschläge? Möglicherweise auch Dämmstoffe. Das Trauma war so nachhaltig, dass es das eigentliche Produkt völlig überschattet hat. Was ich mit hundertprozentiger Sicherheit weiß: Es ging um ein öffentliches Bauvorhaben in Berlin. Und um die Frage, warum Innovation manchmal nicht an der Technik scheitert, sondern an der Tatsache, dass niemand weiß, wohin mit ihr.
Ach ja, und falls du dich fragst, ob ich den Termin am Ende bekommen habe: Das erfährst du gleich. Zusammen mit der Erklärung, warum mein rechtes Augenlid danach drei Tage lang getanzt hat.
Also: Schnall dich an. Wir betreten das Haus, das Verrückte macht. Berliner Ausgabe.
Das Bodenbelag-Telefonat
Eine dokumentarisch-absurde Tragikomödie in 17 Anrufen
(Produktdetails können aufgrund posttraumatischer Verdrängung von der Realität abweichen)
9:15 Uhr. Ich sitze motiviert am Schreibtisch, frischer Kaffee, leerer Notizblock, volles Selbstvertrauen
Ich:
"Guten Tag, ich bräuchte einen Termin für eine Präsentation. Modulare textile Bodenbeläge mit Geräuschdämmung."
Stimme 1 (freundlich):
"Oh, das klingt interessant! Aber Bodenbeläge sind leider nicht unser Bereich. Sie brauchen die Vergabestelle. 030-246-7823."
Ich notiere ordentlich: "Vergabestelle 7823"
Ich:
(wähle) "Vergabestelle, guten Tag! Ich wurde von der allgemeinen Auskunft zu Ihnen weitergeleitet."
Stimme 2 (gestresst):
"Moment... welche Auskunft? Die 7822? Gibt es seit drei Monaten nicht mehr. Und Präsentationen mache ich sowieso nicht. Das ist Herr Müller. 030-246-7845."
Ich streiche "7822" durch, schreibe "Müller 7845"
Ich:
(wähle) "Hallo, hier ist... ist da Herr Müller?"
Stimme 3 (verwirrt):
"Hier ist Hoffmann. Kein Müller weit und breit."
Ich:
"Entschuldigung, ich suche den Müller für Präsentationstermine."
Stimme 3:
"Ach, DEN Müller! Der ist doch schon ewig nicht mehr hier. Der ist jetzt in der neuen Abteilung. 246-7891. Aber Achtung - nur dienstags zwischen 10 und 12 Uhr."
9:47 Uhr. Ich schaue auf die Uhr: Dienstag, 9:47. Perfekt.
Ich:
(10:03 Uhr, wähle) "Herr Müller? Endlich! Ich brauche einen Präsentationstermin für modulare textile Bodenbeläge."
Müller (müde):
"Präsentationen gehen nur mit Voranmeldung. Haben Sie eine Voranmeldung?"
Ich:
"Nein, wie bekomme ich die?"
Müller:
"Bei Frau Schmidt. Aber nicht die Schmidt von vorhin. Die andere. Die schreibt sich mit 'tt'. Schmitt. 246-7834."
Ich schreibe sorgfältig: "Schmitt (mit TT!) - 7834"
Ich:
(wähle) "Frau Schmitt? Ich brauche eine Voranmeldung für Herrn Müller."
Schmitt (pedantisch):
"Welcher Müller? Wir haben einen Müller in 4A, einen in 4B und einen in der Projektkoordination."
Ich:
(erste leichte Irritation) "Den für Präsentationen?"
Schmitt:
"Ach, der Müller! Der macht aber keine Präsentationen mehr. Das ist jetzt zentral organisiert. Zentrale Terminvergabe. Warten Sie... 246-7600."
10:23 Uhr. Ich beginne, kleine Kreise auf meinen Block zu malen
Ich:
(wähle 7600) "Zentrale Terminvergabe?"
Stimme 4 (gelangweilt):
"Nein, hier ist Facility Management. Terminvergabe ist 7700."
Ich:
(wähle 7700) "Zentrale Terminvergabe?"
Stimme 5:
"Kommt darauf an. Was für Termine?"
Ich:
"Präsentationstermine. Für modulare textile Bodenbeläge."
Stimme 5:
"Textil? Das ist aber Gewerk 7. Da können wir nicht helfen. Sie brauchen die Fachbereichskoordination. 246-7900."
Die Kreise auf meinem Block werden zu Spiralen
Ich:
(wähle 7900, meine Stimme wird angespannter) "Fachbereichskoordination?"
Stimme 6:
"Ja, aber welcher Fachbereich?"
Ich:
"Bodenbeläge. Modulare. Textile."
Stimme 6:
"Moment... modular... das ist aber innovativ. Für Innovation ist die Sonderabteilung zuständig. 246-7950."
Ich:
(wähle, beginne zu wippen) "Sonderabteilung?"
Stimme 7:
"Hier ist die Sonderabteilung für besondere Fälle. Sind Ihre Bodenbeläge ein besonderer Fall?"
Ich:
(etwas lauter) "Sie haben Geräuschdämmung und individuellen Aufdruck!"
Stimme 7:
"Aufdruck? Das klingt wie Teppichboden. Für Teppichboden sind wir nicht zuständig. Das ist Standard. Standard macht die 7800."
11:15 Uhr. Ich starre meine Spiralen an, die jetzt wie kleine Wirbelstürme aussehen
Ich:
(wähle 7800, spreche betont ruhig) "Ich. Brauche. Einen. Termin. Für. Eine. Präsentation."
Stimme 8:
"Für was denn?"
Ich:
(lauter) "Modulare textile Bodenbeläge mit Geräuschdämmung!"
Stimme 8:
"Warum schreien Sie denn? Und modular... das ist aber nicht Standard. Für Nicht-Standard brauchen Sie die Sonderabteilung."
Ich:
(sehr laut) "ICH WAR SCHON BEI DER SONDERABTEILUNG!"
Stimme 8:
"Dann verbinde ich Sie mit meinem Vorgesetzten."
Warteschleife. Vivaldi. Frühling. Sommer. Herbst. Winter. Wieder Frühling.
Stimme 9:
"Sie wurden zu mir durchgestellt?"
Ich:
(erschöpft) "Ja. Bodenbeläge. Termin. Präsentation."
Stimme 9:
"Haben Sie schon bei der Vergabestelle angerufen?"
11:43 Uhr. Ich starre auf meinen Block. 14 durchgestrichene Telefonnummern. Mein rechtes Augenlid beginnt zu zucken.
Ich:
(sehr leise) "Das war mein erster Anruf."
Stimme 9:
"Dann rufen Sie da an. 246-7823."
Ich lege auf. Starre das Telefon an. Das Augenlid zuckt rhythmisch. Ich wähle 7823.
Stimme 2 (dieselbe wie bei Anruf 2):
"Vergabestelle, Sie stören."
Ich:
(monoton) "Ich war schon mal hier. Vor zwei Stunden. Sie haben mich zu Müller geschickt."
Stimme 2:
"Welcher Müller?"
Mein linkes Augenlid gesellt sich zum rechten. Ich male jetzt kleine explodierende Sterne
Ich:
(flüstere) "Es gibt da dieses Produkt. Ich weiß nicht mehr genau was. Aber es ist innovativ. Und niemand kann mir sagen, wo ich einen simplen Präsentationstermin bekomme."
Stimme 2:
(lange Pause) "Präsentationen macht doch die zentrale Terminvergabe."
Ich:
(beide Augen zucken jetzt) "Die hatten mich zu Ihnen zurückgeschickt."
Stimme 2:
"Ach so. Ja, dann... äh... haben Sie es schon bei Frau Schmidt versucht?"
12:27 Uhr. Ich habe aufgehört zu malen. Ich starre nur noch vor mich hin und wimmere leise. Beide Augenlider tanzen Samba.
Ich:
(ganz ruhig) "Mit oder ohne 'tt'?"
Stimme 2:
"Das weiß ich nicht. Moment, ich verbinde Sie..."
Warteschleife. Wieder Vivaldi. Ich beginne leise mitzusummen. Das Augenzucken wird rhythmischer.
Stimme 10:
"Hallo? Sind Sie noch da?"
Ich:
(singe leise) "Dah dah dah dah, irgendwas mit Innovation, dah dah dah..."
Stimme 10:
"Hallo?"
Ich lege auf. Lehne mich zurück. Betrachte meinen Block: 17 Telefonnummern, 23 Pfeile, 15 Fragezeichen, unzählige Spiralen und explodierende Sterne.
Ich nehme mein Handy, wähle den Außendienst
Ich:
(beide Augen zucken, aber meine Stimme ist wieder professionell) "Hi, ich bin's. Nein, hat nicht geklappt mit dem Termin. Warum? Das ist eine längere Geschichte. Eine sehr, sehr lange Geschichte. Ach, und falls jemand fragt: Unser Produkt ist anscheinend sowohl Standard als auch revolutionäre Innovation. Je nachdem, mit wem man spricht."
Ich lege auf, starre noch einmal auf das Telefon
Ich:
(zu mir selbst, Augenlid zuckt) "Weißt du was? Vielleicht ist das hier gar kein Behörden-System. Vielleicht ist das ein ausgeklügeltes Trainingsprogramm für Frustrationstoleranz. Oder ein Kunstprojekt. Oder..."
Das Telefon klingelt
Ich:
(nehme sofort ab, hoffnungsvoll) "Ja?"
Epilog
Drei Tage später hatte sich das Augenzucken gelegt. Den Präsentationstermin bekam ich übrigens nie. Dafür aber eine Erkenntnis: Manchmal braucht es jemanden, der nicht das System umgeht, sondern versteht, wo die Lücken sind. Jemanden, der weiß, dass das beste Produkt der Welt niemandem hilft, wenn es nie beim Kunden ankommt.
Und während ich heute abends auf dem Sofa sitze - mit schnarchendem Hund, drei Katzen und einem Tee - denke ich mir: Vielleicht ist genau das die Marktlücke. Nicht neue Produkte zu erfinden, sondern alte Systeme zu durchbrechen.
Das Produkt? Keine Ahnung. Aber das Trauma sitzt tief.
Die Moral der Geschichte
Innovation scheitert nicht immer an fehlender Technologie oder mangelnder Nachfrage. Manchmal scheitert sie daran, dass zwischen dem besten Produkt und dem Kunden ein System steht, das so perfekt darauf ausgelegt ist, Neues zu verhindern, dass es bereits selbst ein Kunstwerk der Bürokratie geworden ist.